BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 u.a. – [Lissabon]

Deutschland darf den Vertrag von Lissabon ratifizieren. Eine schallende Ohrfeige gab es aber für den deutschen Gesetzgeber, der mit dem Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der EU leichtfertig Kompetenzen verschenken wollte.  Die EU sei im Übrigen noch kein Bundesstaat, die Staatlichkeit der Mitgliedstaaten zu respektieren, so das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 30.06.2009. Die Erwägungen der deutschen Verfassungswächter könnten auch im Bereich des europäischen Naturschutzrechts Wirkungen zeitigen.

Gibt Deutschland zu viel von seiner Souveränität frei, d.h. werden die nach der Wesentlichkeitstheorie dem Parlament vorbehaltenen Entscheidungen in bedeutsamen Politikbereichen oder in großem Umfang auf zwischenstaatliche Institutionen übertragen, die über keine dem Bundestag vergleichbare demokratische Legitimitation verfügen – was bei den Organen der EU und damit auch beim Europäischen Parlament auch nach Lissabon immer noch der Fall ist -, so verstößt dies gegen das Recht jedes Einzelnen auf demokratische Teilhabe aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG. Die Schaffung von Kompetenz-Kompetenzen wird strikt abgelehnt, das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und der Subsidiaritätsgrundsatz werden betont. In der Konsequenz habe daher auch das BVerfG das letzte Wort und nicht etwa der EuGH.

Das ist erfreulich, ist doch unverkennbar, dass es dem EuGH in der Summe bislang nicht gelungen ist, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den Kompetenzen der EU und denen der Mitgliedstaaten zu finden. Vielmehr scheint er im Integrationsübereifer – die Erfahrungen aus der Geschichte sollten eigentlich genügend darüber belehren, dass eine von oben aufoktroyierte Intergration keine Integration ist – fortwährend vorrangig auf die größtmögliche Ausdehnung des Gemeinschaftsrechts bedacht zu sein (sehr lesenswert hierzu Wieland, NVwZ 2009, 1841 ff.). Das bekommen die Mitgliedstaaten auch im Naturschutzrecht immer wieder zu spüren, wobei die Verdienste des Gemeinschaftsrechts nicht geschmälert werden sollen (es geht um ein ausgewogenes Verhältnis).

Das BVerfG betont, dass es trotz des Grundsatzes gemeinschaftsfreundlichen Verhaltens berufen sei, die Wahrung des unantastbaren Kerngehalts der Verfassungsidentität, wozu auch die Grundrechte zählen, sicherzustellen. Es bestätigt insoweit zwar die bisherige Solange-Rechtsprechung, doch implizieren die mehrfachen Hinweise auf die Letztprüfungskompetenz des BVerfG, der EuGH möge gewarnt sein. Insoweit bleibt mit Spannung zu erwarten, wann das BVerfG dazwischengeht. Sollte der EuGH im Bereich Natura 2000 (weiterhin) keinerlei außernaturschutzfachliche Spielräume bei der Gebietsauswahl bzw. -abgrenzung gewähren, ein enges Korsett bei der Festlegung der Definition der Erhaltungsziele für die einzelnen Schutzgebiete anlegen sowie die Schrauben bei der Abweichungsprüfung nach Art. 6 Abs. 4 FFH-RL – hier sind noch einige Fragen offen – ähnlich fest anziehen wie bei der FFH-Verträglichkeitsprüfung nach Art. 6 Abs. 3 FFH-RL bzw. das ubiquitär geltende Artenschutzrecht in seiner Anwendbarkeit wieder ausweiten und in den Abweichungsvoraussetzungen restriktiv vorgehen (Stichwort bspw.: kein Abweichen bei ungünstigem Erhaltungszustand, außer bei akuten Gefahren für überragende Güter), dürfte die Zurückhaltung des BVerfG langsam an Grenzen stoßen. Die Grundrechte lassen nun mal – auch wenn es ökologisch wohl Not tut – eine erzwungene Kontraktion und Konvergenz nicht zu. Insoweit sollte in stärkerem Maße auch über andere Mittel (z.B. ökonomische Anreize) nachgedacht werden, im Übrigen ein langer Atem bewiesen und stärker auf die Akzeptanz der EU-Bevölkerung gegenüber umweltschützenden Maßnahmen gesetzt werden. Hier käme den EU-Organen die vom BVerfG konstatierte größere Distanz zum Wähler sogar zugute; ist doch die Akzeptanzförderung eine Geduld abnötigende Angelegenheit, an deren Ende selbst im besten Fall kaum konkrete, kausal auf bestimmte Aktivitäten und politische Programme zurückführbare Ergebnisse stehen.

Alles in allem ist das Lissabon-Urteil des BVerfG sehr lesenswert, eine Sternstunde der Juristerei.

Weitere Informationen:

Entscheidungsbesprechungen:

  • Eva Kocher, ArbuR 2009, S. 332 ff. 
  • Walter Frenz, EWS 2009, S. 441 ff. 
  • Walter Frenz, VerwArch 100, S. 475 ff.

Fundstellen (Leitsätze und Gründe):

  • BGBl. I 2009, S. 2127 ff.
  • NJW 2009, S. 2267 ff.
  • DVBl 2009, S. 1032 ff.
  • EuGRZ 2009, S. 339 ff. 
     

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