EuGH, Urteil v. 10.1.2006 – Rs. C-98/03 – [Kommission ./. Deutschland]

1. Der Gegenstand einer Vertragsverletzungsklage nach Artikel 226 EG wird durch das in dieser Bestimmung vorgesehene Vorverfahren eingegrenzt, so dass die Klage nicht auf andere als die im Vorverfahren angeführten Vorschriften gestützt werden kann. Dieses Erfordernis kann jedoch nicht so weit gehen, dass in jedem Fall eine völlige Übereinstimmung zwischen den nationalen Vorschriften, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme angeführt werden, und den Vorschriften zu verlangen ist, die in der Klageschrift genannt werden. Ist zwischen diesen beiden Phasen des Verfahrens eine Gesetzesänderung erfolgt, so genügt es, dass die Regelung, die mit den im vorprozessualen Verfahren beanstandeten Rechtsvorschriften eingeführt wurde, durch die neuen Maßnahmen, die der Mitgliedstaat nach der mit Gründen versehenen Stellungnahme erlassen hat und die mit der Klage angegriffen werden, insgesamt aufrechterhalten worden ist (Rdnr. 27).

2. Nach Artikel 6 Absatz 3 der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen hängt das Erfordernis einer angemessenen Prüfung von nicht unmittelbar mit der Verwaltung eines Gebietes in einem besonderen Schutzgebiet in Verbindung stehenden oder hierfür nicht notwendigen Plänen oder Projekten auf ihre Verträglichkeit davon ab, dass die Wahrscheinlichkeit oder die Gefahr besteht, dass sie das betreffende Gebiet erheblich beeinträchtigen. Insbesondere unter Berücksichtigung des Vorsorgeprinzips liegt eine solche Gefahr dann vor, wenn anhand objektiver Umstände nicht ausgeschlossen werden kann, dass ein Plan oder Projekt das fragliche Gebiet erheblich beeinträchtigt.

Die Voraussetzung, von der die Prüfung von Plänen oder Projekten auf ihre Verträglichkeit mit einem bestimmten Gebiet abhängt, verwehrt es, von dieser Prüfung bestimmte Kategorien von Projekten anhand von Kriterien auszunehmen, die nicht geeignet sind, zu gewährleisten, dass die Möglichkeit einer erheblichen Beeinträchtigung der Schutzgebiete durch die fraglichen Projekte ausgeschlossen ist (Rdnrn. 40-41).

3. Ein durch eine nationale Regelung eingeführtes System, das die Genehmigung emittierender Anlagen nur dann ausschließt, wenn die Emissionen geeignet erscheinen, ein Schutzgebiet im Einwirkungsbereich dieser Anlagen besonders zu beeinträchtigen, so wie dieser vor allem anhand von allgemeinen anlagebezogenen Kriterien festgelegt ist, erscheint nicht geeignet, die Beachtung des Artikels 6 Absätze 3 und 4 der Richtlinie 92/43 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wild lebenden Tiere und Pflanzen zu gewährleisten, soweit dieses System nicht gewährleistet, dass Projekte und Pläne für diese Anlagen, die Emissionen verursachen, nicht Schutzgebiete außerhalb des Einwirkungsbereichs dieser Anlagen treffen (Rdnrn. 50-51).

4. Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe d der Richtlinie 92/43 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wild lebenden Tiere und Pflanzen, der ein Verbot der Beschädigung oder Vernichtung der Fortpflanzungs- oder Ruhestätten vorsieht, erfasst nicht nur absichtliche, sondern auch unabsichtliche Handlungen. Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat dadurch, dass er das Verbot nach dieser Bestimmung anders als die Verbote der in Artikel 12 Absatz 1 Buchstaben a bis c genannten Handlungen nicht auf absichtliche Handlungen beschränkt hat, deutlich gemacht, dass er die Fortpflanzungs- und Ruhestätten verstärkt vor Handlungen schützen will, die zu ihrer Beschädigung oder Vernichtung führen. Angesichts der Bedeutung des Zieles des Schutzes der biologischen Vielfalt, dessen Verwirklichung die Richtlinie dient, ist es keineswegs unverhältnismäßig, dass das Verbot nach Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe d nicht auf absichtliche Handlungen beschränkt ist ( Rdnr. 55).

5. Eine nationale Vorschrift sieht keinen rechtlichen Rahmen vor, der mit der durch Artikel 16 der Richtlinie 92/43 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wild lebenden Tiere und Pflanzen eingeführten Ausnahmeregelung im Einklang steht, wenn sie die Zulassung von Ausnahmen nicht von der Erfüllung sämtlicher Voraussetzungen des Artikels 16 abhängig macht, sondern als einzige Voraussetzung für die Zulassung der Ausnahmen vorsieht, dass Tiere, einschließlich ihrer Nist-, Brut-, Wohn- oder Zufluchtstätten, und Pflanzen der besonders geschützten Arten nicht absichtlich beeinträchtigt werden.

Auch wenn insoweit die Ausnahmen von den in der Richtlinie vorgesehenen Verboten Gegenstand einer Verwaltungsentscheidung sind, bei deren Erlass die zuständigen Behörden die Voraussetzungen beachten, von denen Artikel 16 die Zulassung von Ausnahmen abhängig macht, steht der rechtliche Rahmen im Widerspruch zu dem der Richtlinie (Rdnr. 61).

6. Die Artikel 12, 13 und 16 der Richtlinie 92/43 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wild lebenden Tiere und Pflanzen bilden einen zusammenhängenden Nomenkomplex, der ein striktes Schutzsystem für die Tier- und Pflanzenarten gewährleisten soll.

Ein solches System wird nicht durch eine nationale Vorschrift gewährleistet, die bei der Nennung der Fälle, in denen die Anwendung von Pflanzenschutzmitteln untersagt ist, nicht in klarer, spezifischer und strikter Weise die in den Artikeln 12 und 13 der Richtlinie enthaltenen Verbote der Schädigung der geschützten Arten vorsieht (Rdnrn. 66-67).

7. Was die ordnungsgemäße Umsetzung einer Richtlinie angeht, so ist ein in einem Mitgliedstaat geltender rechtlicher Rahmen, in dem gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßende Landesvorschriften und eine dem Gemeinschaftsrecht entsprechende Bundesvorschrift gleichzeitig bestehen, nicht geeignet, tatsächlich in klarer und bestimmter Weise die vollständige Anwendung der Richtlinie zu gewährleisten (Rdnr. 78).

Weitere Informationen:

Entscheidungsbesprechungen:

Fundstellen (Leitsätze und Gründe):

  • Slg 2006, I-53
  • NuR 2006, S. 166 ff.
  • NVwZ 2006, S. 319 ff.

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