EuGH, Urteil v. 24.11.2011 – C-404/09 – [Alto Sil]

Mit seinem Urteil vom 24.11.2011 im Vertragsverletzungsverfahren gegen das Königreich Spanien ist der EuGH wieder einmal weitgehend den Schlussanträgen der Generalanwältin gefolgt und hat Spanien in mehreren Punkten verurteilt.

Zunächst hielt der EuGH fest, dass aus Art. 3 UVP-RL (Richtlinie 85/337/EG) die Pflicht zur umfassenden Ermittlung und Bewertung sämtlicher erheblicher Umweltauswirkungen folge, was auch die Einbeziehung sonstiger Vorhaben und deren Wirkungen bedeute (Rdnr. 77-80). Die insoweit missverständliche Fußnote zu Anhang IV Nr. 4 UVP-RL (“sollte einbezogen werden”), ist demnach als “muss einbezogen werden” zu lesen.

Sodann bestätigte der EuGH nochmals die seit dem Muschelfischer-Urteil bekannten strengen Anforderungen an die FFH-Verträglichkeitsprüfung, nämlich das Erfordernis der Gewissheit, dass unter Berücksichtigung der besten einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse erhebliche Beeinträchtigungen ausbleiben werden (Rdnr. 99).

Im Weiteren greift der EuGH die Erwägung der Generalanwältin auf, dass die von Spanien für die Tagebauvorhaben im Schutzgebiet “Alto Sil” angeführte Bedeutung für die “ortsansässige Wirtschaft” ein zwingender Grund des überwiegenden öffentlichen Interesses darstellen könnte (Rdnr. 109). Damit dürfte feststehen, dass grundsätzlich auch rein lokale Belange eine Abweichung nach Art. 6 Abs. 4 FFH-RL ermöglichen können – eine positive Nachricht insbesondere für die Bauleitplanung (hierzu im Übrigen Lau, Der Naturschutz in der Bauleitplanung). Im konkreten Fall half das Spanien allerdings wenig, da hier die Abweichung nach Art. 6 Abs. 4 FFH-RL schon mangels hinreichender Untersuchung eventueller erheblicher Beeinträchtigungen ausschied (Rdnr. 109).

Fernerhin bestätigte der EuGH nochmals die Spezialität des Art. 6 Abs. 3 FFH-RL gegenüber Art. 6 Abs. 2 FFH-RL (Rdnr. 122). Vor Schutzausweisung genehmigte Vorhaben, auf die Art. 6 Abs. 3 FFH-RL keine Anwendung findet, fallen seiner Auffassung nach aber unter das allgemeine Verschlechterungsverbot des Art. 6 Abs. 2 FFH-RL (Rdnr. 124). Vom Schutzniveau her entspreche dieses Verbot den von Art. 6 Abs. 3 FFH-RL verlangten Standards (Rdnr. 126). Auch beschränke sich Art. 6 Abs. 2 FFH-RL nicht auf die Abwehr anthropogen verursachter Verschlechterungen, sondern beziehe auch natürliche Effekte mit ein (Rdnr. 135). Auf einen Kausalzusammenhang komme es insoweit jeweils nicht an; vielmehr reiche die Wahrscheinlichkeit oder Gefahr einer erheblichen Beeinträchtigung aus, um entsprechende Schutzpflichten auszulösen (Rdnr. 142). Kommt es zu nicht genehmigten Maßnahmen, die mit erheblichen Beeinträchtigungen eines Natura 2000-Gebiets verbunden sind, und unterbindet der Mitgliedstaat diese nicht umgehend – hier hatte Spanien ein nicht genehmigtes Bergbauvorhaben vier Jahre lang geduldet -, so liege ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 FFH-RL vor (Rdnr. 152).

Erfreulich ist, dass der EuGH der Generalanwältin auch insoweit gefolgt ist, als diese Art. 6 Abs. 4 FFH-RL sinngemäß auch auf die Pflichten aus Art. 6 Abs. 2 FFH-RL angewendet hat, obwohl Art. 6 Abs. 4 FFH-RL seinem Wortlaut nach nur für Pläne und Projekte im Sinne des Art. 6 Abs. 3 FFH-RL gilt (Rndr. 156). Freilich müsse jedoch auch hier der Abweichungsentscheidung eine sorgfältige “Umweltprüfung” vorausgehen (Rdnr. 157).

Des Weiteren hatte sich der EuGH mit Fragen im Zusammenhang mit dem Schutz nur potenzieller FFH-Gebiete zu beschäftigen. Hier bestätigte er ebenfalls seine bisherige Rechtsprechung: Die Mitgliedstaaten haben insoweit lediglich Sorge zu tragen, dass es nicht zu ernsthaften Beeinträchtigungen der ökologischen Merkmale des betreffenden Gebiets kommt, vorliegend also, dass der Braunbär im Gebiet nicht ausstirbt (Rdnr. 163-165).

Stellte der EuGH im Zuge der oben erwähnten Obersätze einen Verstoß Spaniens vor allem gegen Art. 6 Abs. 2 FFH-RL mit Blick auf das Auerhuhn fest, so hatte er schließlich noch darüber zu befinden, ob Spanien in Bezug auf diverse Tagebauvorhaben in und um das Schutzgebiet “Alto Sil” Gleiches auch mit Blick auf den Braunbären vorgeworfen werden kann. Diesbezüglich hatte die Generalanwältin gleichfalls einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 FFH-RL angenommen, der auch nicht etwa entsprechend Art. 6 Abs. 4 FFH-RL gerechtfertigt sei, weil es insoweit jedenfalls am erforderlichen Kohärenzausgleich fehle und hatte damit zu erkennen gegeben, dass das Erfordernis der Kohärenzsicherung nicht nur Rechtsfolge, sondern echtes Tatbestandsmerkmal ist. Der EuGH folgte der Generalanwältin im Ergebnis, stützte dies aber darauf, dass es sich beim Braunbären um eine prioritäre Art handle, so dass eine Abweichung analog Art. 6 Abs. 4 FFH-RL aus sonstigen zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses, wie sie hier von Spanien ins Feld geführt wurden, nur nach Beteiligung der Kommission möglich sei, die Kommission aber nicht beteiligt worden ist (Rdnr. 194 f.). Die Frage der Zuordnung der Kohärenzsicherung (Rechtsfolge oder Tatbestandsvoraussetzung) hat er damit geschickt umgangen; sie ist  weiterhin offen.

Das Urteil zeigt, dass es auch nach fast 20 Jahren FFH-Richtlinie noch offene Fragen gibt. Eine davon, nämlich die nach der entsprechenden Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 4 FFH-RL auf die Pflichten aus Art. 6 Abs. 2 FFH-RL, hat der EuGH nun beantwortet.

 

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