BVerwG, Urteil v. 12.03.2008 – 9 A 3.06 – [A 44 VKE 20 Hessisch-Lichtenau II]

Das Urteil des 9. Senates zum Teilabschnitt Hessisch-Lichtenau (VKE 20) der A 44 vom 12.03.2008 war von den Naturschutzrechtlern bereits mit Spannung erwartete worden, hatte der gleiche Senat doch mit seiner Entscheidung zur Westumfahrung Halle (BVerwG, Urteil v. 17.01.2007 – 9 A 20.05) zuletzt für erheblichen Unmut ob der dort formulierten herausragenden Anforderungen an die naturschutzfachlichen Gutachten unter den Fachplanern gesorgt.

Auch dieses Mal gab es eine Überraschung: Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte im Wesentlichen die Rechtmäßigkeit des Änderungs- und Ergänzungsplanfeststellungsbeschlusses des Hessischen Wirtschafts und  Verkehrsministeriums. Noch im Jahr 2001 war der BUND mit seiner Klage gegen die A 44 beim Bundesverwaltungsgericht erfolgreich gewesen (BVerwG, Urteil v. 17.05.2002 – 4 A 28.01). Das Land Hessen hatte daraufhin mittels einem Planergänzungsverfahren erheblich nachgebessert und – auf entsprechenden Hinweis des Gerichtes – noch in der mündlichen Verhandlung am 28.02.2008 einen – weiteren – Planergänzungsbeschluss zur Abweichungprüfung nach Art. 6 Abs. 4 der FFH-Richtlinie übergeben. Dieser war notwendig geworden, weil die Leipziger Richter es für erwiesen ansahen, dass eine erhebliche Beeinträchtigung von nach FFH-Richtlinie unter europäischen Schutz gestellten Lebensraumtypen vorlag. Die Möglichkeit, auch die Abweichungsprüfung im Rahmen eines Ergänzungsbeschlusses nachzureichen, hatte der Senat bereits in seiner Westumfahrung Halle-Entscheidung aufgezeigt. Allerdings ging man bisher davon aus, dass dann auch die FFH-Verträglichkeitsprüfung nachgebessert werden müsste, hatte der 9. Senat doch bisher judiziert, dass ein Fehler in der Verträglichkeitsprüfung auch die Abweichungsentscheidung infizieren würde (BVerwG, Urteil v. 17.01.2007 – 9 A 20.05, UA Rdnr. 114). Numehr stellte der Senat klar, dass ein solcher Automatismus dann ausgeschlossen werden könne, wenn man zum Zwecke der Abweichungsprüfung eine worst-case-Beeinträchtigung unterstelle (UA, Rdnr. 154).

Das BVerwG stellt überdies klar, dass die Darlegungs- und Beweislast für das Vorhandensein von faktischen Vogelschutzgebieten um so höher und die richterliche Kontrolldichte der behördlichen Entscheidung um so geringer ist, je weiter das Auswahlverfahren von Vogelschutzgebieten fortgeschritten ist. Dies gelte um so mehr, wenn das fragliche Gebiet als solche nicht im IBA-Verzeichnis aufgeführt sei und die Kommission keinen Nachmeldebedarf geltend gemacht habe (UA, Rdnr. 49 ff.).

Interessant ist im Zusammenhang mit dem Urteil weiterhin das Schreiben der Europäischen Kommission (GD Umwelt) vom 23. Juli 2007, in dem diese ausdrücklich feststellt, dass Art. 6 Abs. 4 der FFH-Richtlinie nur dann Anwendung findet, wenn in einem Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung prioritäre Arten oder Lebensräume vorkommen und diese durch das Vorhaben in Mitleidenschaft gezogen werden. Da eine tatsächliche Beeinträchtigung von prioritären Lebensraumtypen bzw. Arten im konkreten Fall nicht vorläge, sähe sich die Kommission außerstande, die gewünschte Stellungnahme abzugeben. Noch in seiner Halle-Entscheidung hatte der 9. Senat mit Verweis auf das Wächteramt der Kommsion deren Beteiligung bereits dann als erforderlich angesehen, wenn das betroffene FFH-Gebiet einen prioritären Lebensraumtyp und eine prioritäre Art mit einschließe (UA, Rdnr. 117). In seiner Entscheidung zur A-44 lässt der Senat diese Frage – wie übrigens auch schon in der der Entscheidung zur Hochmoselbrücke (dort Rdnr. 29) – dagegen ausdrücklich “offen” (UA, Rdnr. 151), nicht ohne darauf hinzuweisen, dass eine Stellungnahme der Kommission erfolgt sei. Es wäre freilich wünschenswert gewesen, wenn der Senat zu seiner einmal judizierten Rechtsauffassung gestanden und den dann bestehenden inhaltlichen Dissens mit der EU-Kommission offengelegt oder aber seine Auffassung deutlich revidiert hätte.

Mit seiner Entscheidung hat der Senat weiterhin im Hinblick auf die Stickstoffeinträge (NOx) die so genannten critical loads zur Grundlage seiner Bewertung gemacht (UA, Rdnr. 107 ff). Dies ist um so bemerkenswerter, als das HMWVL sich lange gegen diese Bewertungsmethode gesträubt und erst durch einen Fragenkatalog des Gerichtes zu den critical loads mehr oder weniger gedrängt wurde. So sehr auch der Wunsch nach wissenschaftlich fundierten Schwellenwerten verständlich ist, führt dieser Weg jedoch ins Abseits. Es dürfte unstreitig sein, dass die durch die critical loads aufgestellten Erheblichkeitsschwellen durch Stickstoffbelastungen bereits im Ist-Zustand überschritten werden, so dass jede Steigerung des Stickstoffeintrages unweigerlich in die Erheblichkeit führen muss. Der entsprechende Einwand des Klägers wurde freilich durch das Gericht aus rein formellen Gründen abgewiesen (UA, Rdnr. 111 ). Dabei wird dem Senat wohl klar gewesen sein, dass die Berücksichtigung dieses Einwandes nicht nur die Entscheidung erheblich verzögert, sondern diese womöglich ganz anders ausgesehen hätte. Die A 44 ist damit gerettet; die critical loads aber bleiben und werden andere Infrastrukturvorhaben noich erheblich erschweren.

Im Ergebnis lässt sich konstatieren, dass der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichtes im Nachgang zu seiner Westumfahrung Halle – Entscheidung offensichtlich um Schadensbegrenzung bemüht ist. Hierzu wären freilich klare Worte hilfreicher gewesen, als “still und heimlich” die selbst gestellten Anforderungen zurückzunehmen. Darüber hinaus kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass mit der Entscheidung dem Planfeststellungsbeschluss bei all seinen Mängeln mit Gewalt über dem Berg geholfen werden sollte, um damit deutlich zu machen, dass die Anforderungen des europäischen Naturschutzrechtes Infrastrukturvorhaben mitnichten im Wege stehen. Eine zweite Aufhebung des PFB wäre da schlecht zu verkaufen gewesen. Anders ist nicht zu erklären, dass die Verträglichkeitsprüfung durchgewunken wurde, obwohl diese im Hinblick auf die Pfeiffengraswiesen (LRT 6410) eine Erheblichkeit fälschlicherweise verneint hat. Die Priorität wird auch dort deutlich, wo sich er Kläger darüber beschwert, dass ihm weniger als zwei Wochen Zeit zur Stellungnahme für den Ergänzungs- und Änderungsbeschluss eingeräumt wurde. Dieser Einwand wurde durch den Senat mit der Begründung zurückgewiesen, der Umfang der schriftlichen Stellungnahme habe gezeigt, dass die Frist ausreichend bemessen gewesen sei; der Beklagte habe die am 27. Februar 2008 in Wiesbaden eingegangene Stellungnahme auch in seinem am 28. Februar 2008 in Leipzig in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Ergänzungs- und Änderungsbeschluss hinreichend berücksichtigen können.

Man darf in jeden Fall gespannt bleiben, wie die Rechtsprechung zum europäischen Naturschutzrecht weitergehen wird, insbesondere jetzt, wo der gemäßigte Flügel innerhalb des 9. Senates mit dem Ausscheiden von RiBVerwG Willi Vallendar in den wohlverdienten Ruhestand deutlich geschwächt sein dürfte.

Weitere Informationen:

Entscheidungsbesprechung:

Fundstellen (Leitsätze und Gründe):

  • BVerwGE 130, S. 299 ff.
  • NuR 2008, S. 633 ff.

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